Wie die PS wieder auf die Straße kommen

Stefan Piechottka

Seit gut 20 Jahren arbeite ich als Pastor – und ich bin immer noch von der Gemeinde Jesu begeistert. Ich gebe Willow Creek recht: "Die Ortsgemeinde ist die Hoffnung der Welt". Nicht weil bei uns alles rund läuft. In den letzten Jahren habe ich in Abgründe geschaut, von denen ich niemals dachte, dass es sie überhaupt gibt. Nein, Gemeinde ist weit davon entfernt perfekt oder fehlerlos zu sein, aber unsere Botschaft ist einfach nicht zu übertreffen. Wir können denen eine neue Perspektive geben, die sich im Leben nicht mehr auskennen, denen Hoffnung zusprechen, die wie gelähmt in die Zukunft schauen, und Menschen mit dem Schöpfer des Lebens bekannt machen, die immer dachten, dass ihr Leben sinnlos sei. Wir können von einem Gott reden, der lieber stirbt als ohne uns zu leben.

Gerade weil ich von der Gemeinde Jesu so begeistert bin, macht es mich traurig, wenn ich sehe, wie manche Gemeinden etwas in die Jahre gekommen sind und nicht selten angefangen haben, sich ausschließlich um sich selber zu drehen. Darum habe ich mich vor einigen Monaten entschieden, mich mit einem kleinen Stellenanteil selbstständig zu machen, um Gemeinden zu begleiten, die noch einmal neu durchstarten wollen, oder, um es etwas salopper zu formulieren: Ich möchte Gemeinden dabei unterstützen, dass sie wieder ihre PS zurück auf die Straße bringen. Und wissen Sie was? Ich staune immer wieder neu darüber, dass das gar nicht so schwer ist.

Bevor der eigentliche Beratungsprozess startet, biete ich Gemeinden einen (fast) kostenlosen Erstbesuch an. Bei diesem Kennenlernen habe ich drei Bitten an die Teilnehmerinnen und Teilnehmer:

1. Bitte erzählt mir eure Geschichte

Sie glauben gar nicht, wie schnell altgewordenen Augen wieder leuchten können. Wenn "die Alten" einmal ihre Geschichten erzählen. Da tauchen dann vor unseren Augen die Erweckungsgeschichten auf, bei denen das halbe Dorf in der Bibelstunde saß, der missionarische Gitarrenchor, die Missionsstunde mit Bruder X oder die spannenden Freizeiten mit der Diakonisse Y, bei der die Leute hinterher Schlange standen, um ihr Leben Jesus zu geben.

Ich genieße es, hier die Leute zu beobachten, die erzählen und auch die, die diese Geschichten vielleicht zum ersten Mal hören. Sie fangen an zu schwärmen und zu träumen und vor allem: Sie sind mal wieder stolz auf ihre Gemeinde und Jesus dankbar für das, was er durch sie bewegt hat.

Irgendwann kommen wir dann in der Gegenwart an. Die Gesichter werden wieder ernst, der Glanz aus den Augen verschwindet. "Heute gibt es das alles nicht mehr. Es sind so viele weggezogen. Niemand lässt sich mehr einladen." An dieser Stelle bitte ich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer dann um eine zweite Sache:

2. Bitte erzählt mir nicht, was gerade alles falsch läuft

Dieser Punkt kommt unterschiedlich an. Manche akzeptieren das gleich, andere ärgern oder wundern sich. Schließlich bin ich doch gekommen, um dabei zu helfen, dass die Gemeinde "repariert" wird – da muss ich doch wissen, was alles falsch läuft.

Um es gleich zu sagen: Hier bleibe ich hart. Schließlich haben die Gemeinden in der Regel bis jetzt schon genug gelitten, geschimpft und getrauert. Jetzt ist Zeit, nach vorne zu sehen. Darum meine dritte Bitte:

3. Erzählt mir, was heute bei euch gut läuft

Was "funktioniert"? Was ist "gar nicht mal so schlecht? Wo habt ihr den Eindruck, dass Jesus wirkt und ihr im Glauben wachst? Wo seht ihr heute noch Spuren, wo Gott etwas auf ganz natürliche Weise wachsen lässt?

Unter uns: An dieser Stelle hatte ich am Anfang immer Angst, denn oft machte sich erst einmal das große Schweigen breit. Was machen wir, wenn niemand etwas sagt? Dann aber fangen in der Regel die ersten an zu reden. Vielleicht von der Bibelstunde, die ihnen so wertvoll ist und von der sie immer motiviert nach Hause gehen. Vom Winterspielplatz, bei dem sie in der Adventszeit auf die Kinder der Eltern aufpassen, damit sie in Ruhe ihre Weihnachtseinkäufe machen können. Oder sie erzählen von dem ehrenamtlichen Engagement einzelner Mitarbeiter bei der örtlichen Tafel. Sie sagen dann Dinge wie: "So oft ergeben sich gute Gespräche – auch über das, was uns antreibt, über unseren Glauben, über Jesus."

Einmal erzählte eine ältere Frau von dem Seniorencafé, das die Gemeinde einmal im Monat anbietet. Mit Kaffee, Kuchen, einer Andacht und vor allem mit ganz vielen Menschen, die Jesus noch nicht kennen. Hier redet man über den Glauben, "aber", so meinte sie dann etwas resigniert: "Sie kommen einfach nicht in die Gemeinde" (damit meinte sie, dass sie nicht in den Gottesdienst oder in die Bibelstunde kommen). In diesem Moment schaute eine andere Frau sie sichtlich berührt an und meinte: "Aber sie kommen doch! Wir müssen nur umdenken. Was ist, wenn unser Seniorencafé der Ort wird, wo wir uns missionarisch einbringen und endlich aufhören zu erwarten, dass die Menschen unsere Gottesdienste mögen und in Massen zu uns kommen müssen?" Wir reden dann die restliche Zeit des Abends darüber, wie das, was heute noch gut läuft, gestärkt werden kann.

Ganz oft fahre ich unendlich glücklich und dankbar nach Hause, weil die neue Hoffnung und die neue Begeisterung für die eigene Gemeinde deutlich spürbar war. Einmal bekam ich ein paar Tage nach einem Erstgespräch eine E-Mail. Der Gemeindeleiter bedankte sich freundlich für den Abend. Er schrieb, dass allein der Austausch die Gemeinde so begeistert hätte dass sie mich nun nicht mehr brauchen. Schade für mich, aber wunderschön für die Gemeinde.

Wenn Gemeindeleiter mir nicht solche Briefe schreiben, dann beginnt sehr oft ein gemeinsamer Beratungsprozess. Auch wenn ich die Begriffe nicht immer erwähne und die Reihenfolge dabei oft eine andere ist, spielen dabei die acht Qualitätsmerkmale der natürlichen Gemeindeentwicklung eine zentrale Rolle:

1. Bevollmächtigende Leitung

Ohne die geht es nicht. Wir brauchen auch bei einem Neubelebungsprozess Leiterinnen und Leiter, die andere dabei unterstützen, motivieren und begleiten, dass Einzelne den Weg gehen, den Gott mit ihnen gehen möchte.

2. Gabenorientierte Mitarbeiterschaft

Die Frage, welches Potential in einer Gemeinde vorhanden ist, ist ungeheuer wichtig. Keine Gemeinde muss alles machen. Wir sind nicht erst dann eine "gute" Gemeinde, wenn wir ein Angebot von der Krippe bis zur Bahre anbieten. Meine Frage an die Gemeinden lautet darum auch immer: Was könnt ihr besonders gut? Wozu hat der Heilige Geist die Einzelnen von euch und euch als Ganzes begabt und beauftragt? Was ist euer ganz eigenes Profil? Dann geht es um die Fragen, wie sich einzelne Gaben ergänzen, wo Menschen entlastet werden können, weil sie seit Jahren Dinge tuen, die gar nicht zu ihnen passen.

3. Leidenschaftliche Spiritualität

Sie glauben gar nicht, wie viele Christen ich getroffen habe, die darüber staunen, dass sie tatsächlich das in die Gemeinde einbringen dürfen, was sie gut können und was ihnen Spaß macht. Jahrelang haben sie mit der Lüge gelebt, dass der Dienst für Gott vor allem aus Treue und Pflicht besteht und es nicht darum gehen darf, wie tatsächlich das eigene Herz schlägt. Aber stellen Sie sich einmal vor, was geschehen kann, wenn eine Gemeinde den Mut hat, tatsächlich einmal die Freiheit zu leben, die sie durch Christus erhalten hat. Wenn Menschen miteinander überlegen, wie sie wirklich Gottesdienste feiern wollen und wie sie am besten den Glauben teilen können, statt immer nur den ausgetretenen Trampelpfaden der Vergangenheit zu folgen. In so einer Atmosphäre herrscht höchste Ansteckungsgefahr!

4. Zweckmäßige Strukturen

Gemeindliche Strukturen sind niemals Selbstzweck, sondern immer nur Mittel zum Zweck. Was brauchen wir wirklich, um miteinander so zu leben, dass unsere Liebe zu Gott und zu anderen Menschen an jeder Ecke sichtbar werden kann? Was bremst uns aus? Manchmal bin ich erschrocken darüber, wie viele Menschen in der Gemeinde unendliche Stunden damit verbringen, um in Gremien zu sitzen, die Entscheidungen treffen, die so banal sind, dass sie auch jeder einzelne für sich treffen kann, wenn er dazu beauftragt würde. Ganz ehrlich: Muss man wirklich mit acht Leuten eine gute Stunde darüber diskutieren, wie die Tische beim Gemeindefest stehen sollten? Wie wäre es stattdessen, wenn sich zwei treffen, um die Tische zu stellen und sechs die freie Zeit damit verbringen, um Menschen zu besuchen und sie zum Gemeindefest einladen?

5. Inspirierende Gottesdienste

Für viele Gemeinden ist der Gottesdienst nach wie vor die zentrale Veranstaltung der Gemeinde. Solange das so ist, sollte hier auch viel Achtsamkeit investiert werden. Wie können diese Veranstaltungen so gestaltet werden, dass sie zu denen passen, die daran teilnehmen? Nirgendwo steht, dass alle in Stuhlreihen hinter- und nebeneinandersitzen müssen, um jemandem zuzuhören, der auf einer hölzernen Kanzel weit entfernt von seinen Hörern steht. Manchmal frage ich: Wenn ihr heute einen Gottesdienst ganz neu erfinden müsstet, wie würde er dann aussehen? Was würdet ihr genauso machen und was ganz anders?

6. Ganzheitliche Kleingruppen

Na gut, manchmal komme ich in so kleine Gemeinde, die für sich schon eine Kleingruppe sind. Im Wesentlichen geht es aber doch hier um die Frage: Wie können wir Netzwerke in unserer Gemeinde spannen, so dass Menschen wirklich ein Teil von uns sind, statt ständig das Gefühl haben, um Zugehörigkeit kämpfen zu müssen? Das können Hauskreise und Zellen sein, oder auch einfach nur eine gute Verbindung der Menschen untereinander, bei der Achtsamkeit und Zeit füreinander bewusst gefördert werden.

7. Bedürfnisorientierte Evangelisation

Als Gemeinde Jesu haben wir den Auftrag, Menschen mit Jesus bekannt zu machen und sie in eine ewige Beziehung zu ihm einzuladen. Wie das geschehen kann, kann unendlich verschieden sein. Vielleicht führt der Weg über den Winterspielplatz, auf dem die Kinder einfach nur toben und Eltern sich entspannt unterhalten und kennen lernen können, oder über ein Angebot zu einem Gesprächskreis, einem Glaubenskurs usw. – oder eben noch einmal etwas ganz anderes.

8. Liebevolle Beziehungen

Klaus Eickhoff hat mir einmal den Rat gegeben: "Wenn du auf die Kanzel steigst, deine Leute ansiehst und feststellst, dass du sie nicht liebst, tu’ ihnen einen Gefallen und steig wieder hinab." Weil Gott uns zuerst geliebt hat, sind wir dazu berufen, einander zu lieben. Das ist kein Nebenprodukt, sondern ein göttlicher Auftrag. Ich weiß, dass viele Gemeinden gerade an diesem Punkt verletzt sind, weil unsere Verbissenheit, unser Egoismus und unser Stolz uns oft im Weg stehen, aber wir können lieben, weil wir geliebt sind. Das alleine zu erkennen, ist ein erster Schritt. Was wir brauchen, ist vor allem Zeit, um sich kennen zu lernen, um sich wertzuschätzen und um wirklich das Herz des anderen zu entdecken.

Darum mein Rat an viele Gemeinden: Arbeitet an euren Freundschaften, sucht nach Wegen, um euch mehr zu vertrauen und euch anzuvertrauen. Vergesst nie: Jeder Mensch ist solange normal, bis du ihn kennen lernst.

Verstehen Sie, warum ich so begeistert bin von dem, was ich da tue? Ich darf dabei sein, wenn Gemeinden zu neuem Leben erwachen und sie wieder offen, liebevoll und manchmal auch ganz laut oder ungewöhnlich neu von dem reden, der sie selber vor so vielen Jahren selber angerührt hat.

Stefan Piechottka, 47, lebt mit seiner Familie in Marburg und arbeitet als Pastor in der Evangelischen Gemeinschaft Marburg-Ortenberg. Als Gemeindeberater ist er gern im deutschsprachigen Raum unterwegs und über www.leichtegemeinde.de oder unter buero@leichtegemeinde.de zu erreichen.

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